Lucas Tod: Schuldfrage in Steinsel

Ohne Zweifel muss auf eine Tragödie, wie sie sich am 2. Oktober 2006 in der Steinseler Maison Relais abspielte, ein Urteil folgen und eine Lehre aus ihr gezogen werden.

Der in den Unfall verwickelte Schrank stand bereits vor der Eröffnung der Maison Relais und bei deren Besichtigung durch die Eltern an der vermeintlich „offensichtlich“ gefährlichen Stelle. Jedem scheint heute klar, dass jener Schrank eine Gefahr für die sich im Raum befindlichen Personen darstellte. Wieso ist niemand der Besucher auf diesen Fehler aufmerksam geworden? Bezieht sich der Mangel an gesundem Menschenverstand, den man den Erziehern vor Gericht vorwarf, etwa auf alle Personen, die den Raum betraten?

Der Steinseler Bürgermeister erklärte, er habe einen Sicherheitsbeauftragten bestimmt, der für die Kontrolle öffentlicher Einrichtungen zuständig sei, da er selbst keine Kompetenz in Sicherheitsfragen habe. Richtig. Doch auch Erzieher lernen in ihrer Ausbildung nicht, wie man einen Raum sicherheitstechnisch einzurichten hat. Auch sie haben diese Kompetenz nicht. Auf professionelle Erfahrung konnten die verurteilten Erzieher, die ihren ersten Arbeitsvertrag eingegangen sind, nicht zurückgreifen.

Des Weiteren belehrt uns der Artikel 18 des „Règlement grand-ducal“ über die Organisation der „Maisons Relais“, dass Sicherheitsgarantien in der Infrastruktur der Inneneinrichtung im Zuständigkeitsbereich des Trägers, in diesem Falle der Gemeindeverwaltung, zu gewährleisten sind. Ist es dann nicht die Verantwortung des Steinseler Sicherheitsbeauftragten, samt der Gemeindeverwaltung, die auf die Einhaltung ihrer Arbeitstätigkeiten zu achten hat?

Wie konnte am 1. September 2006 die Eröffnung der Maison Relais stattfinden, obwohl noch keine sicherheitstechnische Abnahme erfolgt war? Die Gemeinde behauptet, diese wäre am 12. September mündlich erfolgt. „Mündlich“! Eine Abnahme dieser Art ist nicht mehr wert als ein Vertrag ohne Unterschrift. Dem Familienministerium nach ist die Abnahme am 15. September in Kraft getreten. Im Memorial erschien sie am 8. November, gut einen Monat nach dem tragischen Unfall.

Dazu kommt, dass diese „Abnahme“ ohne vorheriges Betreten, geschweige denn einer Überprüfung durch qualifiziertes Personal, leichtfertig ausgesprochen wurde. Das Familienministerium hielt einen weiteren Besuch der sozial-pädagogischen Einrichtung für unnötig, da 2005 bereits eine Kontrolle durchgeführt worden ist. Die räumliche Veränderung, die die Eröffnung einer Maison Relais mit sich bringt, scheint unbeachtet. Dass diese Vorgehensweise unserer Gesetzgebung entsprechen soll, widerspricht nunmehr meinem gesunden Menschenverstand. Das Gericht ging nicht weiter auf den wesentlichen Aspekt ein, dass zum Zeitpunkt des verhängnisvollen Unfalls die Räumlichkeiten nicht durch qualifiziertes Personal überprüft worden sind.

Nach unglaublichen vier Jahren dürften nun landesweit alle Schränke befestigt worden sein. Das Setzen eines gerichtlichen Exempels, wie mir dieses Urteil scheint, trifft die Falschen. Gewissenhaft arbeitende Erzieher lässt man wie Kriminelle dastehen und verbaut deren Zukunft. Die Steinseler Gemeinde hingegen ist aus dem Schneider und hat sich seit dem Unfall – man glaube es kaum – nicht mehr bei den Erziehern gemeldet. Der Gemeinde muss die Illusion genommen werden, ein solch unmenschliches und unverantwortliches Verhalten könne Früchte tragen.

Doch damit nicht genug. Allen Erziehern und dem ganzen Lehrkörper wurde eine klare Ansage gemacht. Die beachtliche Verantwortung, die man bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu tragen hat, ist – Reaktionen zufolge – größer als es so manchem bewusst war. Wo genau beginnt diese Verantwortung und wo hört sie auf?

Man beruft sich auf Erfahrungen und seinen gesunden Menschenverstand, um Unfälle zu vermeiden. Man trifft alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen, doch Unfälle, die Verletzungen mit sich führen, kann man nie ausschließen. Als Sportlehrer der Sekundarstufe weiß ich, dass es trotz dickster Matten zu Verletzungen kommen kann. Jedoch liegt Außenstehenden der Vorwurf nahe, man hätte noch ein weiteres Polster hinzufügen können. Im Nachhinein ist für solche Kritiker der Fehler offensichtlich und es fällt ihnen leicht zu behaupten, dass dieser, dank gesundem Menschenverstand, auch vor einem Unfall schon festzustellen gewesen sei.

Wer Kinder hat oder mit ihnen arbeitet, weiß wie unberechenbar diese sind und versteht, wie schwer es ist, in größeren Gruppen (z. B. Klassen von bis zu 30 Schülern) jedes von ihnen im Auge zu behalten. Der Gedanke, dass man sich ohne jede Unterstützung vom Arbeitgeber alleine vor Gericht verantworten muss, lässt nicht nur Erzieher und Lehrer erblassen. Die Qualität der Sportstunden und aller Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen ist gefährdet. Ehrenamtliches Arbeiten in diesem Bereich gehört wohl auch bald der Vergangenheit an.

Dieser Beitrag soll keinesfalls den äußerst tragischen Unfall verharmlosen, sondern das Urteil kritisch beleuchten.

Leserbrief im Luxemburger Wort (19.3)
unterzeichnet

Ein Freund eines
verurteilten Erziehers (P.S.)