Empört euch!
Behinderte Menschen packen aus!
Eine Stimmensammlung
zusammengetragen von Chantal Lorang
„Was im Vorhinein nicht ausgegrenzt wird,
braucht hinterher auch nicht eingegliedert zu werden.“
Richard von Weizsäcker
Im Juli 2011 wurde die UNO Behindertenkonvention in Luxemburg ratifiziert. Die Rechte und Würde der Menschen mit Behinderung sollen verstärkt geschützt und gefördert, Barrieren abgebaut, eine qualifizierte Ausbildung und allgemeine Inklusion garantiert werden.
Dennoch fühlen sich viele behinderte Menschen weiterhin bevormundet und übergangen. Vielerorts stoßen ihre Wünsche und Belange, ihre Ängste und Nöte auf Abwehr, Gleichgültigkeit oder Unverständnis. Weil sie eventuell weniger leistungsstark oder auf Hilfe angewiesen sind, werden sie nicht selten im Betrieb diskriminiert und isoliert. Wegen vermehrter Krankenhausaufenthalten oder Sonderkonditionen geht manch einer auf Distanz zu seinem behinderten Arbeitskollegen. Schlimmstenfalls kommt es zu übler Nachrede, Ressentiments und Mobbing. Zwischen theoretischem Wunschdenken und nüchterner Alltagsrealität hat die Inklusion noch einen weiten Weg zurückzulegen.
Wer aber könnte eindringlicher gegen Ausgrenzung, Vorurteile und Tabus anschreiben als die Betroffenen oder Familienmitglieder von Betroffenen? Lassen wir sie deshalb am heutigen Welttag der Menschen mit Behinderung selbst zu Wort kommen:
„Momentan bin ich krankgeschrieben, da ich bis zum Oberschenkel amputiert worden bin. Letztes Jahr habe ich 4 Monate gar keine Arbeit zugewiesen bekommen und dann eine Arbeit, bei der man Dipl. Kaufmann sein muss. Dann werden am laufenden Band meine Zugangsdaten für den PC gelöscht (Sorry, ich dachte Sie hätten schon gekündigt!), Akten verschwinden, Post kommt ca. 4-6 Wochen später bei mir an bzw. ich bekomme irgendwann eine Mahnung von dem Absender. Das Schloss von meinem Büro wird immer wieder ausgetauscht oder mein Namensschild verschwindet eigenartigerweise über Nacht. Unterlagen verschwinden aus meinem Büro und tauchen dann Wochen später irgendwo wieder auf. Immer wieder werden von meinem PC Programme oder sogar ganze Dateien gelöscht. Termine bei der Geschäftsführung werden plötzlich gestrichen und für neue ist keine Zeit da.“
Ein Rollstuhlfahrer
„In den Augen vieler werden Behinderte zum Neutrum. … Auch in Pflegeheimen und Einrichtungen wurden körperliche Wünsche von Behinderten bis in die jüngste Zeit als Tabu angesehen… Problematisch kann es werden, wenn durch Hausordnungen, z.B. Besuchsverbot, ständige Aufsicht durch das Pflegepersonal oder Fehlen von Einzelzimmern und Ausweichräumen Grenzen nicht respektiert werden. Behinderte Menschen werden in Institutionen oft gerne mit allen möglichen Alltagsangeboten beschäftigt, die Lebensthemen Liebe, Partnerschaft, Sexualität dabei aber vermieden. Und das obwohl Zuneigung und körperliche Zuwendung insgesamt und nachweislich Stress abbauen und Depressionen lindern. Auch die Partnersuche, die für viele Behinderte schwierig ist, wird wenig unterstützt. So bleiben oft nur die Kontaktanzeigen, die Singlebörsen im Internet oder die Nutzung der Prostitution… Der ganze Lernprozess der Partnerschaft mit Flirten und allem, was dazu gehört, bleibt Menschen mit einer schweren Behinderung oft verwehrt.“
Christiane Walerich: Gegen alle Vorurteile. (Bulletin Info-Handicap / woxx)
„Es gibt auch Wohnheime, da werden am Duschtag Behinderte nackt auf Tragen gelegt. Und während die einen nackt im Flur warten, werden andere nackt aus der Dusche gefahren. So wird das Intimleben von behinderten Menschen oft nicht respektiert, andererseits aber ist ihre Körperlichkeit ein Tabu… Meine Frau und ich fordern, dass das „Schweizer Modell der Sexualassistenz“ endlich in Luxemburg Einzug hält. Sie soll helfen, die sinnliche Leere, die Menschen mit einer Behinderung oft erleben, zu lindern. Hier reicht meist schon Zärtlichkeit.“
Joël Delvaux in: Gegen alle Vorurteile von Christiane Walerich
„Von nebenan drang Lachen und Musik. Ich war beleidigt und böse, denn ich wäre auch gerne dabei gewesen. Aber damals war ich zwölf und hatte noch nicht kapiert, dass man mich besser vor Fremden versteckt. Inzwischen weiß ich genau, wie peinlich es den Leuten ist, wenn sie mich plötzlich sehen. So ein armer Krüppel, denken sie. Sagen tun sie das natürlich nicht, aber ich sehe es ihnen an, dass sie am liebsten wieder aus dem Zimmer gehen oder mich übersehen würden… Die Leute sind nicht herzlos oder boshaft, das weiß ich schon, aber sie wissen nicht, wie man mit jemandem redet, der nur mühsam auf Krücken vorwärts kommt. Dabei möchte ich ja keinen Wettlauf mit ihnen machen. Ich würde nur gerne mit ihnen reden. Mein Kopf, mein Mund und meine Zunge funktionieren genau wie bei anderen auch.“
Myrjam Pressler: Stolperschritte.
„Etwas in mir war erloschen oder hatte keinen Platz mehr in meinem Leben, ich konnte nicht sagen, was. Ich gaffte immer ihre Gesichter an, um aus ihrem Blick herauszulesen, ob sie etwas Absonderliches an mir wahrnahmen. Wenn ein Fremder vorbeikam, versteckte ich jedes Mal mein Gesicht, aber es ließ sich nicht vermeiden, dass ich immer wieder sah, wie sie mir zuerst ins Gesicht und dann auf die Hände blickten. Beim Weitergehen schüttelten sie dann bedeutungsvoll den Kopf, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Diese Blicke der Menschen auf den Straßen gingen mir durch und durch… Ich erfuhr damals, wie ich es später oftmals erlebte, wie bitter und vernichtend ein Blick des Mitleids für jemanden wie mich sein kann, für jemanden, der etwas anderes braucht, als Mitgefühl.“
Christy Brown: Mein linker Fuß.
(Lebensgeschichte eines fast völlig gelähmten Jungen aus Dublin, der in eine Irrenanstalt gesteckt werden sollte. Die Mutter lässt es nicht zu. Mit der Zeit lernt Christy Brown zu malen und zu schreiben. Ein lesenswertes Buch, das trotz der ernsten Thematik sehr humorvoll ist.. Die Geschichte wurde 1989 von Jim Sheridan verfilmt und mit 2 Oscars ausgezeichnet.)
„Wenn du nicht alleine versauern willst, dann musst du raus auf die Straße. Am Leben teilzunehmen heißt auch, sich Blicken auszusetzen. Die sind oft mitleidsvoll, oft freundlich, oft unterstützend und eben oft auch abschätzend oder abwertend. Und wenn nicht abwertend, dann doch auf jeden Fall bewertend. Das muss man erst einmal aushalten lernen… Mit aller Kraft habe ich mich gegen die Schublade gestemmt, in die mich andere stecken wollten. Anstatt zu bejammern, was nicht mehr geht, habe ich mich auf meine Stärken konzentriert und begonnen, diese zu kommunizieren. … Im Grunde sind wir alle Menschen. Alle haben wir Defizite und Qualitäten. Manche brauchen eben einen Rollstuhl und andere nicht.“
Florian Sitzmann: Der halbe Mann. Dem Leben Beine machen. Gütersloher Verlagshaus
„Zum ersten Mal wurde ich mir der negativen Seite von Gehörlosigkeit richtig bewusst und merkte, wie sehr ich mich von anderen unterschied. „Mit deiner Sprache wirst du keinen Mann finden, sie klingt komisch.“ Manche Klassenkameraden merkten, dass sie damit auf eine Wunde gestoßen waren, und fühlten sich motiviert, weiter darin herumzustochern. Sie äfften mich nach, in übertrieben betonter Form. Ich wurde Zielscheibe des Spotts und der Demütigungen. Von diesen Erfahrungen sollte ich mich lange nicht erholen. Ich verstummte. Ich hatte keine Kraft mehr, kein Selbstbewusstsein, kein Selbstvertrauen. Ich war nicht mehr ich. Ich hatte eine panische Angst davor, vor den Leuten zu sprechen und dabei das hämische Grinsen Einzelner zu sehen, die mit ihren Mienen einen angestrengten Ausdruck vortäuschten und so taten, als verstünden sie gar nichts von dem, was ich sagte.“
Sarah Neef: Im Rhythmus der Stille. Campus.
„Aber es gab etwas, wogegen ich wehrlos war: Sie verglich uns dauernd mit den Hörenden, hämmerte uns ein, dass wir ihnen nicht ebenbürtig waren. “Du wirst es nie schaffen, egal wie sehr du dich anstrengst, du kannst es gar nicht schaffen, mit den Hörenden auf einer Ebene zu sein. Hörende sind viel besser als ihr. Sie kennen viel mehr Wörter als ihr, sie lernen alles viel schneller, sie wissen mehr. Ihr seid behinderte Kinder, deswegen müsst ihr euch viel mehr anstrengen, und trotzdem seid ihr nicht halb so viel wert wie die Hörenden“, vermittelte sie mir durch ihre Worte und ihre ganze Haltung. Das fügte mir mehr Schäden zu als ihr Bambusstock. Mein Selbstbewusstsein hat sehr lange unter diesen Vergleichen gelitten… Sie reduzierte mich auf den, dem man nur das Notwendigste erzählt.“
Peter Hepp: Die Welt in meinen Händen. Ein Leben ohne Hören und Sehen.
„Einen Menschen über seine Schwäche, sein Defizit, sein Handicap zu definieren, statt über seine Stärke, seine Vorzüge, seine besondere Qualität ist immer eine Kränkung. Dennoch gehört es zu unserem Alltag. Schon im Kindergarten fängt es an. Der Nachdenkliche wird als „Spinner“ abgestempelt, die Brillenträgerin als „Brillenschlange“. Die einen laufen als „Niete“ in Mathe durchs Schulhaus, die anderen als „Krücke“ in Sport, „Flasche“ in Französisch oder „Null“ in Physik. Manche leiden unter solchen Kränkungen ein Leben lang, andere nehmen sie hin, doch alle wissen: es ist zutiefst unmenschlich. Menschen mit Behinderung jedoch müssen es sich Tag für Tag gefallen lassen, auf ein Defizit reduziert, als „Behinderte“ angesehen zu werden… Unterschwellig transportiert die Etikettierung „behindert“ ein bedenkliches Sammelsurium an Einstellungen, Ängsten und Vorurteilen, die weit über ein neutrales Merkmal hinausgehen. Sie hat abschätzige und beleidigende Bedeutungen, mitleidige, mildtätige und überhebliche Akzente, medizinische und neugierige, ängstliche und bewundernde Sichtweisen. Nahezu immer dienen sie der Ausgrenzung…
Zugegeben, viele Menschen mit Behinderung haben mehr Schmerz, Leid und Verlust als andere erfahren. Das gilt vor allem für diejenigen, die durch Unfall oder Erkrankung aus einem gewohnten besseren Zustand herausgerissen wurden. Doch viele haben neuen Lebensmut gefasst, erstaunliche Kräfte entfaltet und wegen ihres Handicaps eine Lebensklugheit und menschliche Haltung entwickelt, die mehr als „normal“ ist. …
Statt Mitleid wäre es besser, konkret mit ihnen zu leiden, wenn etwas schief läuft, sich gemeinsam mit ihnen zu ärgern, wenn sie benachteiligt werden, vor allem aber dafür zu kämpfen, dass die Behinderung von Menschen mit Beeinträchtigungen, die Ausbeutung und Benachteiligung der Familien und Helfer ein Ende nimmt und unsere Gesellschaft menschlicher und solidarischer wird…
Menschen mit Behinderung sind keine Randgruppe, sondern die größte Minderheit auf der Erde. … In Deutschland leben etwa sieben Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung. Das ist mehr als jeder zwölfte Einwohner im Land. Die Zahl angeborener Behinderungen wird maßlos überschätzt. Damit wird die Tatsache verdrängt, dass es jeden urplötzlich treffen kann.“
Michail Krausnick: Behinderung: Wer behindert wen? Handicap International.
Behinderungen sind meistens eine Folge von: Krieg, heimtückischen Waffensystemen Hunger, Not, mangelnder Hygiene, Missbrauch von Alkohol, Drogen, Medikamenten, Autounfällen, Natur- und Atomkatastrophen…
“Um zu verhindern, dass ungebremstes Profitstreben Tod, Krankheit und Behinderung von Menschen als „Kollateralschäden“ in Kauf nimmt, wird es immer wichtiger, die Gefahren des industriellen Wachstums kritisch zu beobachten und das demokratische Recht auf Kontrolle und Mitsprache einzufordern.“
(Michail Krausnick: Ebenda.)
lorang.chantal@education.lu
Behinderte Menschen packen aus!
Eine Stimmensammlung
zusammengetragen von Chantal Lorang
„Was im Vorhinein nicht ausgegrenzt wird,
braucht hinterher auch nicht eingegliedert zu werden.“
Richard von Weizsäcker
Im Juli 2011 wurde die UNO Behindertenkonvention in Luxemburg ratifiziert. Die Rechte und Würde der Menschen mit Behinderung sollen verstärkt geschützt und gefördert, Barrieren abgebaut, eine qualifizierte Ausbildung und allgemeine Inklusion garantiert werden.
Dennoch fühlen sich viele behinderte Menschen weiterhin bevormundet und übergangen. Vielerorts stoßen ihre Wünsche und Belange, ihre Ängste und Nöte auf Abwehr, Gleichgültigkeit oder Unverständnis. Weil sie eventuell weniger leistungsstark oder auf Hilfe angewiesen sind, werden sie nicht selten im Betrieb diskriminiert und isoliert. Wegen vermehrter Krankenhausaufenthalten oder Sonderkonditionen geht manch einer auf Distanz zu seinem behinderten Arbeitskollegen. Schlimmstenfalls kommt es zu übler Nachrede, Ressentiments und Mobbing. Zwischen theoretischem Wunschdenken und nüchterner Alltagsrealität hat die Inklusion noch einen weiten Weg zurückzulegen.
Wer aber könnte eindringlicher gegen Ausgrenzung, Vorurteile und Tabus anschreiben als die Betroffenen oder Familienmitglieder von Betroffenen? Lassen wir sie deshalb am heutigen Welttag der Menschen mit Behinderung selbst zu Wort kommen:
„Momentan bin ich krankgeschrieben, da ich bis zum Oberschenkel amputiert worden bin. Letztes Jahr habe ich 4 Monate gar keine Arbeit zugewiesen bekommen und dann eine Arbeit, bei der man Dipl. Kaufmann sein muss. Dann werden am laufenden Band meine Zugangsdaten für den PC gelöscht (Sorry, ich dachte Sie hätten schon gekündigt!), Akten verschwinden, Post kommt ca. 4-6 Wochen später bei mir an bzw. ich bekomme irgendwann eine Mahnung von dem Absender. Das Schloss von meinem Büro wird immer wieder ausgetauscht oder mein Namensschild verschwindet eigenartigerweise über Nacht. Unterlagen verschwinden aus meinem Büro und tauchen dann Wochen später irgendwo wieder auf. Immer wieder werden von meinem PC Programme oder sogar ganze Dateien gelöscht. Termine bei der Geschäftsführung werden plötzlich gestrichen und für neue ist keine Zeit da.“
Ein Rollstuhlfahrer
„In den Augen vieler werden Behinderte zum Neutrum. … Auch in Pflegeheimen und Einrichtungen wurden körperliche Wünsche von Behinderten bis in die jüngste Zeit als Tabu angesehen… Problematisch kann es werden, wenn durch Hausordnungen, z.B. Besuchsverbot, ständige Aufsicht durch das Pflegepersonal oder Fehlen von Einzelzimmern und Ausweichräumen Grenzen nicht respektiert werden. Behinderte Menschen werden in Institutionen oft gerne mit allen möglichen Alltagsangeboten beschäftigt, die Lebensthemen Liebe, Partnerschaft, Sexualität dabei aber vermieden. Und das obwohl Zuneigung und körperliche Zuwendung insgesamt und nachweislich Stress abbauen und Depressionen lindern. Auch die Partnersuche, die für viele Behinderte schwierig ist, wird wenig unterstützt. So bleiben oft nur die Kontaktanzeigen, die Singlebörsen im Internet oder die Nutzung der Prostitution… Der ganze Lernprozess der Partnerschaft mit Flirten und allem, was dazu gehört, bleibt Menschen mit einer schweren Behinderung oft verwehrt.“
Christiane Walerich: Gegen alle Vorurteile. (Bulletin Info-Handicap / woxx)
„Es gibt auch Wohnheime, da werden am Duschtag Behinderte nackt auf Tragen gelegt. Und während die einen nackt im Flur warten, werden andere nackt aus der Dusche gefahren. So wird das Intimleben von behinderten Menschen oft nicht respektiert, andererseits aber ist ihre Körperlichkeit ein Tabu… Meine Frau und ich fordern, dass das „Schweizer Modell der Sexualassistenz“ endlich in Luxemburg Einzug hält. Sie soll helfen, die sinnliche Leere, die Menschen mit einer Behinderung oft erleben, zu lindern. Hier reicht meist schon Zärtlichkeit.“
Joël Delvaux in: Gegen alle Vorurteile von Christiane Walerich
„Von nebenan drang Lachen und Musik. Ich war beleidigt und böse, denn ich wäre auch gerne dabei gewesen. Aber damals war ich zwölf und hatte noch nicht kapiert, dass man mich besser vor Fremden versteckt. Inzwischen weiß ich genau, wie peinlich es den Leuten ist, wenn sie mich plötzlich sehen. So ein armer Krüppel, denken sie. Sagen tun sie das natürlich nicht, aber ich sehe es ihnen an, dass sie am liebsten wieder aus dem Zimmer gehen oder mich übersehen würden… Die Leute sind nicht herzlos oder boshaft, das weiß ich schon, aber sie wissen nicht, wie man mit jemandem redet, der nur mühsam auf Krücken vorwärts kommt. Dabei möchte ich ja keinen Wettlauf mit ihnen machen. Ich würde nur gerne mit ihnen reden. Mein Kopf, mein Mund und meine Zunge funktionieren genau wie bei anderen auch.“
Myrjam Pressler: Stolperschritte.
„Etwas in mir war erloschen oder hatte keinen Platz mehr in meinem Leben, ich konnte nicht sagen, was. Ich gaffte immer ihre Gesichter an, um aus ihrem Blick herauszulesen, ob sie etwas Absonderliches an mir wahrnahmen. Wenn ein Fremder vorbeikam, versteckte ich jedes Mal mein Gesicht, aber es ließ sich nicht vermeiden, dass ich immer wieder sah, wie sie mir zuerst ins Gesicht und dann auf die Hände blickten. Beim Weitergehen schüttelten sie dann bedeutungsvoll den Kopf, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Diese Blicke der Menschen auf den Straßen gingen mir durch und durch… Ich erfuhr damals, wie ich es später oftmals erlebte, wie bitter und vernichtend ein Blick des Mitleids für jemanden wie mich sein kann, für jemanden, der etwas anderes braucht, als Mitgefühl.“
Christy Brown: Mein linker Fuß.
(Lebensgeschichte eines fast völlig gelähmten Jungen aus Dublin, der in eine Irrenanstalt gesteckt werden sollte. Die Mutter lässt es nicht zu. Mit der Zeit lernt Christy Brown zu malen und zu schreiben. Ein lesenswertes Buch, das trotz der ernsten Thematik sehr humorvoll ist.. Die Geschichte wurde 1989 von Jim Sheridan verfilmt und mit 2 Oscars ausgezeichnet.)
„Wenn du nicht alleine versauern willst, dann musst du raus auf die Straße. Am Leben teilzunehmen heißt auch, sich Blicken auszusetzen. Die sind oft mitleidsvoll, oft freundlich, oft unterstützend und eben oft auch abschätzend oder abwertend. Und wenn nicht abwertend, dann doch auf jeden Fall bewertend. Das muss man erst einmal aushalten lernen… Mit aller Kraft habe ich mich gegen die Schublade gestemmt, in die mich andere stecken wollten. Anstatt zu bejammern, was nicht mehr geht, habe ich mich auf meine Stärken konzentriert und begonnen, diese zu kommunizieren. … Im Grunde sind wir alle Menschen. Alle haben wir Defizite und Qualitäten. Manche brauchen eben einen Rollstuhl und andere nicht.“
Florian Sitzmann: Der halbe Mann. Dem Leben Beine machen. Gütersloher Verlagshaus
„Zum ersten Mal wurde ich mir der negativen Seite von Gehörlosigkeit richtig bewusst und merkte, wie sehr ich mich von anderen unterschied. „Mit deiner Sprache wirst du keinen Mann finden, sie klingt komisch.“ Manche Klassenkameraden merkten, dass sie damit auf eine Wunde gestoßen waren, und fühlten sich motiviert, weiter darin herumzustochern. Sie äfften mich nach, in übertrieben betonter Form. Ich wurde Zielscheibe des Spotts und der Demütigungen. Von diesen Erfahrungen sollte ich mich lange nicht erholen. Ich verstummte. Ich hatte keine Kraft mehr, kein Selbstbewusstsein, kein Selbstvertrauen. Ich war nicht mehr ich. Ich hatte eine panische Angst davor, vor den Leuten zu sprechen und dabei das hämische Grinsen Einzelner zu sehen, die mit ihren Mienen einen angestrengten Ausdruck vortäuschten und so taten, als verstünden sie gar nichts von dem, was ich sagte.“
Sarah Neef: Im Rhythmus der Stille. Campus.
„Aber es gab etwas, wogegen ich wehrlos war: Sie verglich uns dauernd mit den Hörenden, hämmerte uns ein, dass wir ihnen nicht ebenbürtig waren. “Du wirst es nie schaffen, egal wie sehr du dich anstrengst, du kannst es gar nicht schaffen, mit den Hörenden auf einer Ebene zu sein. Hörende sind viel besser als ihr. Sie kennen viel mehr Wörter als ihr, sie lernen alles viel schneller, sie wissen mehr. Ihr seid behinderte Kinder, deswegen müsst ihr euch viel mehr anstrengen, und trotzdem seid ihr nicht halb so viel wert wie die Hörenden“, vermittelte sie mir durch ihre Worte und ihre ganze Haltung. Das fügte mir mehr Schäden zu als ihr Bambusstock. Mein Selbstbewusstsein hat sehr lange unter diesen Vergleichen gelitten… Sie reduzierte mich auf den, dem man nur das Notwendigste erzählt.“
Peter Hepp: Die Welt in meinen Händen. Ein Leben ohne Hören und Sehen.
„Einen Menschen über seine Schwäche, sein Defizit, sein Handicap zu definieren, statt über seine Stärke, seine Vorzüge, seine besondere Qualität ist immer eine Kränkung. Dennoch gehört es zu unserem Alltag. Schon im Kindergarten fängt es an. Der Nachdenkliche wird als „Spinner“ abgestempelt, die Brillenträgerin als „Brillenschlange“. Die einen laufen als „Niete“ in Mathe durchs Schulhaus, die anderen als „Krücke“ in Sport, „Flasche“ in Französisch oder „Null“ in Physik. Manche leiden unter solchen Kränkungen ein Leben lang, andere nehmen sie hin, doch alle wissen: es ist zutiefst unmenschlich. Menschen mit Behinderung jedoch müssen es sich Tag für Tag gefallen lassen, auf ein Defizit reduziert, als „Behinderte“ angesehen zu werden… Unterschwellig transportiert die Etikettierung „behindert“ ein bedenkliches Sammelsurium an Einstellungen, Ängsten und Vorurteilen, die weit über ein neutrales Merkmal hinausgehen. Sie hat abschätzige und beleidigende Bedeutungen, mitleidige, mildtätige und überhebliche Akzente, medizinische und neugierige, ängstliche und bewundernde Sichtweisen. Nahezu immer dienen sie der Ausgrenzung…
Zugegeben, viele Menschen mit Behinderung haben mehr Schmerz, Leid und Verlust als andere erfahren. Das gilt vor allem für diejenigen, die durch Unfall oder Erkrankung aus einem gewohnten besseren Zustand herausgerissen wurden. Doch viele haben neuen Lebensmut gefasst, erstaunliche Kräfte entfaltet und wegen ihres Handicaps eine Lebensklugheit und menschliche Haltung entwickelt, die mehr als „normal“ ist. …
Statt Mitleid wäre es besser, konkret mit ihnen zu leiden, wenn etwas schief läuft, sich gemeinsam mit ihnen zu ärgern, wenn sie benachteiligt werden, vor allem aber dafür zu kämpfen, dass die Behinderung von Menschen mit Beeinträchtigungen, die Ausbeutung und Benachteiligung der Familien und Helfer ein Ende nimmt und unsere Gesellschaft menschlicher und solidarischer wird…
Menschen mit Behinderung sind keine Randgruppe, sondern die größte Minderheit auf der Erde. … In Deutschland leben etwa sieben Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung. Das ist mehr als jeder zwölfte Einwohner im Land. Die Zahl angeborener Behinderungen wird maßlos überschätzt. Damit wird die Tatsache verdrängt, dass es jeden urplötzlich treffen kann.“
Michail Krausnick: Behinderung: Wer behindert wen? Handicap International.
Behinderungen sind meistens eine Folge von: Krieg, heimtückischen Waffensystemen Hunger, Not, mangelnder Hygiene, Missbrauch von Alkohol, Drogen, Medikamenten, Autounfällen, Natur- und Atomkatastrophen…
“Um zu verhindern, dass ungebremstes Profitstreben Tod, Krankheit und Behinderung von Menschen als „Kollateralschäden“ in Kauf nimmt, wird es immer wichtiger, die Gefahren des industriellen Wachstums kritisch zu beobachten und das demokratische Recht auf Kontrolle und Mitsprache einzufordern.“
(Michail Krausnick: Ebenda.)
lorang.chantal@education.lu