Liebesstufen. Valentinstag in schnellen Zeiten.


Liebesstufen
Valentinstag in schnellen Zeiten
VON CHANTAL LORANG


„Sogar die Zeit ist bestechlich,
wenn die Liebe
ihr nur ein Lächeln schenkt.“
Hans Kruppa

Das Auge glüht. Es kribbelt die Haut. Die Stimme bebt. In den Ohren rauscht das Blut. Und das Herz, es hämmert, hämmert wie ein Specht. Wer kennt sie nicht, diese stürmische Unvernunft? Diese Wallungen der Ekstase?

Ja! Mächtiger noch als blutgetränkte Splattermovies oder hassverzückter
Schockrock ist die Gewalt der Liebe. Nur ihre Strahlkraft zaubert gelangweilte und
verrohte Jugendliche auf die Welt zurück! Nur ihr Märchenkuss erweckt
zu neuem Gefühls- und Seelenleben! Zunächst heißt Liebe Erwachen.

Warnung an alle Teens: Mäßigt euch! Zügelt eure Lust auf hastigen Spaß! Liebe ist kein Sprint! Überhitzte Leidenschaft verschmäht das Sanfte, das Zärtliche, verschreckt das Fohlen. Wo wahre Liebe gedeihen soll, muss Feingefühl vor Erregung walten. Keine
Sorge: Die Geduld wird belohnt – frei nach dem zeitlosen Liebesgesetz: Je anhaltender der Nervenkitzel, desto heftiger die Explosion!

Wir leben in Zeiten allgemeiner Schnelligkeit, Libertinage und Enttabuisierung. Längst ist die Tyrannei der verlogenen Prüderie der Tyrannei der abartigen Offenbarungen und geschwätzigen Perversitäten gewichen. Da werden es die Jungvögel schwer haben, die
Liebe langsam und sicher zu erproben. In ihren medienverhagelten Köpfen tummeln sich weltfremde Bilder vom perfekten Starbody, Kuss und Abenteuer. Doch schon bald folgt der Nachahmungseuphorie aus heiterstem siebtem Hollywoodhimmel die ernüchternde Verunsicherung. Wie schleichendes Gift wirkt die existentielle Frage: Genüge ich? Ich - das picklige Ottonormalbürgergesicht?

Rapide verstrickt sich das Greenhorn in Grübeleien und Analysen, gerät darüber in Angst und Panik, um vollends in kleinlichen Eifersüchteleien zu versinken. Rasant, der Abstieg von Sinnes- zur Streitlust! In Sekundenschnelle werden sich Treueschwüre untreu. „Willkommen und Abschied“ lautet nicht selten die Maxime der ersten Liebesstufe.
Stopp!
Liebe heißt Kummer? Verlangen, Gram und Pein?
Verzweifeltes Festklammern, Manipulation, verlorene Müh?
„Liebe ist, dass Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle.“
Franz Kafka?
Ja!
Kinder, es wird Zeit, die Markenklamotten und -accessoires wegzuschmeißen! Ob out oder uncool, jetzt gilt: Bücher lesen – im Notfall auch modische Ratgeber in
Sachen Selbstvertrauen. Und: Messer wetzen! Symbolische Messer – zum schmerzhaften Herausschälen eines individuellen Kerns, zur Geburtshilfe eines authentischen Ichs. Nach innen führt der dornige Liebesweg. Natürlich erfordert
das Zeit. Ein Reifeprozess wird nicht ruck, zuck vollzogen. Leider werden manche im Ei
ihrer ersten Erfahrung stecken bleiben und ihr Herz für immer verschließen. Andere werden die bittere Erfahrung nutzen ...
… um zu wachsen und irgendwann das Wagnis aus Liebe einzugehen: die Ehe.

Hier scheiden sich die Geister. Die einen lachen zynisch auf und höhnen mit August Strindberg, dem Schweden: „Die Ehe ist ein Todesurteil, das jahrelang vollstreckt
wird“! Auch der Dramatiker Bert Brecht sieht rot statt rosa: „Der Liebesakt soll nicht mehr gelingen. Die Vermischung erfolgt noch, aber die Umarmung ist eine Umarmung von Ringern.“
Weise lächeln hingegen die anderen, erinnern an Philemon und Baucis, das Symbolpaar ewiger Treue schlechthin, oder zitieren Marx: „… ich trage dich auf den Händen, und ich küsse dich von Kopf bis Fuß, und ich falle vor dir auf die Knie, und ich stöhne: Madame, ich liebe sie.“ Nach dreizehn Jahren Ehe und etlichen gemeinsamen Kindern vergötterte der Mohr seine Jenny immer noch wie nichts auf der Welt.
Beneidenswert!

Nein, einfach ist die Eheroutine nicht!
Hausbau und Haushalt, Beruf, Liebe, Partner, Kinder, Sex, Hund und – last but not least – sich selbst mitsamt Mid- und Endlifecrisis unter einen Hut zu kriegen erschöpft, nutzt ab, ergraut und … killt. Um den Klauen der Göttin Juno, der Langeweile und dem Alter zu entkommen, ergreift so mancher entnervt die Flucht und sucht Selbstbestätigung und -erweiterung in Shoppingrausch oder eigennützigen Flirts. Draufgänger stürzen sich direkt ins neue Liebesabenteuer oder – regressiver betrachtet – in bis dato unerfüllte Jugendsünden.

Für uns Computerfreaks kein Problem! Per Mausklick via Facebook schnappt die Liebesfalle rapide zu! Mail-Ping-Pong heißt das neue Spiel der schnellen Lust. Haben
Langsamkeit und traditioneller Don-Juanismus in medialen Zeiten ausgedient?
Vertiefung kostet Zeit. Hetzen wir deshalb zur nächsten Station: Über den Irrungen und Wirrungen der virtuellen Tändelbox ersäuft so manches romantische Ehegelöbnis
lichtschnell in schmutzigsten Scheidungsgewässern. Und längst wissen alle: Die Auflösung der Ehe hat heute Konjunktur!

Schade, dass wir den Bischof Valentin von Terni nicht um Rat fragen können, wurde er doch vor vielen Jahren am 14. Februar – dem heutigen Valentinstag – zum Tode
verurteilt und enthauptet, weil er Liebende ehelichte und mit Hochzeitsblumen
beglückte! Wen bitten wir dann um Hilfe?
Jorge Luis Borges, den Argentinier?
„Am Ehebruch sind gewöhnlich Zärtlichkeit und Selbstverleugnung beteiligt.“
Gewöhnlich? Manchmal? Vielleicht?
Eine lebenslängliche Garantie ist nicht gewährt. Aber seit jeher gilt: Probieren geht über Studieren.
Deshalb: Verliebte, verlobte oder verheiratete Leser, nehmt euch Zeit! Seid zärtlich zueinander, körperlich und verbal, ohne euch selbst zu verlieren! Verwirklicht euch selbst, ohne Gleichgültigkeit und Kälte zu verströmen!
Bis dass der Tod euch scheidet!

Die Idee des Todes mag gerade am Tage Amors auf Ablehnung stoßen. Doch auch sie gehört als letzte Stufe zum Leben und Lieben dazu.
Geraten wir – alt und endlich langsam geworden – erneut ins Grübeln? In Panik? Das soll's gewesen sein?
Mit Blick auf Krankheit und Tod setzen nostalgisches Sehnen und Träumen ein. Gewiss, die Vergangenheit ist vorbei, eine Wiederholung vergangener Liebe unmöglich. Aber die Erinnerung! Sie lebt! Heilig lebt sie in uns fort!
Als versöhnliche Melodie, als letzte Magie! Warum sie abschütteln, wenn
sowieso nur trübe Zeit verbleibt? Wie schön sie doch war, die erste Liebe! Der erste Kuss, wie zärtlich und frisch! Allmählich verklingt der pochende Schmerz, die Pein des Alterns! Wie tröstend die Gedanken an jugendliche Lippen und Körper, an Zärtlichkeiten, deren wir uns damals nicht erwehren mussten.
Wie frei wir auf einmal sind!
Wie gelöst – so selbstvergessen und ohne Angst!
„Oh, ein Bettler ist der Mensch, wenn er nachdenkt, ein Gott, wenn er träumt“ (Hölderlin) – wenn er von seiner ersten Jugendliebe träumt? Einer Liebe, die sein Leben verändert hat, den Todesgedanken versüßt?
Möge der Kreis sich schließen.
Liebe heißt Distanz und Nähe.
Liebe heißt Tod und Geburt.

Chantal Lorang
(erstmals veröffentlicht in: Luxemburger Wort / 14.2.2011)