Karriere und Knick. Von einem der auszog und zum Fürchten wurde...


von Chantal Lorang

Yes we can!
Dieser aufmunternde Slogan soll uns zu wirtschaftlichen Höchstleistungen anfeuern. Zusammen können wir die Welt retten, zusammen sind wir stark. Vereinte Arbeitskräfte
erfordert das gesellschaftliche Gefüge.
Yes we can!
Manipuliert vom öffentlichen Diktat passen wir uns an. Freiwillig. Mit Feuereifer wird die Karriereleiter aufgebaut und hochgeklettert. Es singen und locken die Sirenen des Erfolgs.
Mal ehrlich:
Lautet das primäre Ziel eines jeden Arbeitswütigen nicht eher:
Yes I can?
Sind materielle Sicherheit und Wohlstand nicht überwiegend individuell-egoistische Ziele? Warum sonst wird der Konkurrent rücksichtslos überholt und ausgeschaltet, die Chefetage in Schnelle erobert? Yes I can! Bin ich nicht wunderbar?

Zügig nimmt der narzisstische Wahn seinen gefährlichen Lauf: Diszipliniert und gehorsam werden Projekte ausgeklügelt, Initiative und Motivation bewiesen, weitere Sprossen in Richtung Anerkennung und Reichtum erklommen. Schließlich ist die Wirtschaftslage angespannt! Also wollen wir lieber angepasst im Strom der globalen Entwicklungen mitschwimmen und permanent erreichbar bleiben. Entspannen können wir später …
Hopp hopp hopp, Pferdchen lauf Galopp!
Die Angst, von schnelleren, stärkeren, jüngeren Pferden überholt zu werden, spornt zusätzlich an. Freiwillig peitschen wir Körper, Geist und Seele durch lange Arbeitstage und -nächte, vertreiben die Müdigkeit mit ein paar schicken Tassen Espresso und ernähren uns überwiegend von Nikotin und Fastfood.
Dass wir langsam aber sicher zu Despoten unserer selbst werden,bekommen wir nicht einmal mit. Schmerz- und lautlos vollziehen sich die eigene Versklavung und emotionale Abkapselung. Hin und wieder lassen die Kräfte vielleicht etwas nach, der Blick des Partners ist inzwischen auch merklich kühler geworden, aber diese unbedeutenden Warnsignale werden salopp beiseite geschoben. Laut moderner Wertschätzung ist die Karriere mitsamt Beförderung und Zinsen wichtiger.

Für Gefühlsduselei haben wir weder Zeit noch Energie. Romantik ist ein Fremdwort und erregt zynisches Gelächter, verbreitet Unbehagen, peinliches Schweigen.
Ergo: Lasst uns definitiv mit dem emotionalen Kram abrechnen! Wahre, edle Managergröße liegt im Verzicht alles Weibischen. Wozu brauchen wir Gefühle?
Mit-Gefühl?
Emotionen sind Störfaktoren.
Wie sollen wir unsere Köpfe beim lifelong learning permanent und total benutzen, unsere Körperkraft omnipotent einsetzen, wenn wirtschaftsfremde Hirngespinste wie Freundschaft oder gar Nächstenliebe uns ablenken?

Ja, die moderne Leistungsgesellschaft hat Gefühllosigkeit bitter nötig. Lebensdefizit und emotionale Sterilität. Wen wundert’s also, dass der Powerkarrierist sich einen leeren Blick zulegt. Höflichkeit schätzt er hoch, Herzlichkeit dagegen wehrt er befremdet ab.

Höflich aber distanziert verspricht er seinen Untergebenen das Erwünschte. Dabei weiß jeder, dass sein unverbindliches „Ja“ nichts weiter ist als ein verhülltes „Nein“. Persönliche Stellungnahmen und Präsenz werden in der leistungsdurchtränkten Kommunikation verweigert, ausweichende Umgehungstechniken scheinen perfekt eingeübt.

Wie in früheren verklemmten Zeiten ist Körperlichkeit für den Powergott ein Tabuthema ...
… bis sein eigener Körper ihn verrät, ihn hängen und im Stich lässt.

Meist beginnt die Abwärtsspirale mit Schlaflosigkeit, bleierner Müdigkeit, innerlicher Nervosität, Kopf- und Magenschmerzen, Nackenversteifungen, Herzrasen. Das Innenleben des Robotermenschen fängt an sich zu manifestieren, eigene Wege zu gehen, auf seine Rechte zu pochen.

Nach dem Leistungswahn kommt der Leistungsblues. Die gerechte Strafe. Der Burn-Out. Das endgültige Aus.
Der körperliche Infarkt besiegelt den Karriereknick. Die Konzentration geht flöten, der Arbeitswillige zittert, schwitzt und atmet schwer. Nicht nur beruflich, auch privat und – last but not least – im Bett! Zu müde, zu erschöpft zum Reden, zum Spielen, zum Liebemachen droht dem Leistungswrack nun die Ehepleite.

Mit ihrem totalitären Arbeitsanspruch steuert die Leistungsgesellschaft unausweichlich in eine „Müdigkeitsgesellschaft“1 hinein. Tatsächlich werden Ehen nicht selten aus dem schlichten Grund geschieden, weil die Partner keinen Ausweg aus ihrer „entzweienden
Müdigkeit“2 finden.

In seinem Versuch über die Müdigkeit hat der Schriftsteller Peter Handke die triste Wahrheit schaurig schön auf den Punkt gebracht: „Die beiden fielen schon, unaufhaltsam, weg voneinander, ein jeder in seine höchsteigene Müdigkeit, nicht unsere, sondern meine hier und deine dort.“3

Wird die Müdigkeit nicht gemeinsam verscheucht, drohen wir partnerschaftlich wie beruflich zu scheitern, zu versagen und klagen:
No, we can’t!
Der psychische und/oder körperliche Infarkt besiegelt den Karriereknick, den Eheknick, den Selbstwertknick, die gesellschaftliche, berufliche, mentale und körperliche Impotenz. Und mit seinen rotgeränderten Augen und bläulich verfärbten Krähenfüßen sieht der ehemalige Strahlemann aus Stahl, den alle gefürchtet haben, mit einem Mal tatsächlich zum Fürchten aus.

Hinter vorgehaltener Hand wird nun gemunkelt: Sind es „nur“ Depressionen oder hat er über all die stressigen Jahre hinweg gar einen bösartigen Tumor kultiviert?

Ironie beiseite: Moderne Gesellschaftsstrukturen sind – mit ihrer Yes-we-can-Mentalität –
krankheits- und krebsfördernd. Betroffen sind vor allem Powermenschen, die ihr Leben in den Dienst beruflicher Höchstleistung und materieller Werte gestellt haben und oft herzlos und mit Verachtung auf schwächere, kranke oder gar behinderte Menschen herabblicken.

Solche Beziehungsinvaliden zum Fürchten sollten deshalb bedenken, dass auch sie frührer oder später gezwungen sein werden, „ins Reich der Kranken zu emigrieren“
4. Aus heiterem Himmel können sie aus ihrer Souveränität gerissen, von Depressionen oder Krankheiten zum Umdenken gezwungen werden. Wie warnt Richard von Weizsäcker? „Nicht krank, nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern
ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.”

Es wäre demnach an der Zeit, Wege aus der inhumanen Leistungsgesellschaft zu finden ... Hin zu einer neuen Humanität.
Zu einem neuen Mitgefühl.
Zu einer humaneren Wirtschaft.
Yes we can!


1 Vgl. Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft.
Matthes und Seitz.
2 Handke, Peter: Versuch über die Müdigkeit.
Suhrkamp, S. 20.
3 Ebenda, S. 15.
4 Sontag, Susan: Krankheit als Metapher. Fischer,
S. 5.



Chantal Lorang
(in: LW / 4. Juni 2011 / S.104)